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Tobias Hauswurz
Redakteur

Liebe Leserinnen, liebe Leser, 

kurz vorweg: am Ende dieses Newsletters finden Sie unser ausführliches Interview mit Gelsenkirchens neuer Oberbürgermeisterin Andrea Henze, das wir letzte Woche angekündigt haben.

Zuvor geht es aber um einen Eilantrag, den wir am Mittwochvormittag beim Gelsenkirchener Verwaltungsgericht eingereicht haben: Wir verklagen die Stadtverwaltung auf Auskunft. Sie soll gezwungen werden, uns Informationen über die Finanzlage der Stadt zu geben, da sie bisher unsere Fragen ignoriert.

Worum geht es dabei? 

Vor zwei Wochen fragten wir die Stadtverwaltung nach dem Stand der städtischen Finanzen. Im Sommer hatte der Finanzchef, Luidger Wolterhoff, ein Haushaltsloch in Millionenhöhe angekündigt. Er rechnete damit, dass Gelsenkirchen am Jahresende rund 35 Millionen Euro weniger eingenommen haben wird, als Anfang des Jahres erhofft. 

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Normalerweise bringt die Stadtverwaltung den Haushalt direkt nach der Sommerpause ein. Das bedeutet, sie legt einen Finanzplan vor, den die Politiker beraten, ändern und schließlich im Stadtrat beschließen. Wegen der Kommunalwahl läuft es dieses Jahr anders: Der Haushaltsvorschlag kommt erst am 18. Dezember, die Beratungen beginnen Anfang nächsten Jahres. Der Haushalt 2026 wird frühestens im Februar oder März verabschiedet. 

Weil die politischen Gremien seit dem Sommer nicht mehr getagt haben, haben wir bei der Stadtverwaltung nach einem Update gefragt: Wie viel Geld wird tatsächlich fehlen und was bedeutet das für den Haushalt 2026?

Die Stadtverwaltung verweigerte bisher eine Antwort. Wir sollen die Ratssitzung am 18. Dezember abwarten, sagt sie. Das heißt: Erst eine Woche vor Weihnachten soll die Öffentlichkeit zum ersten Mal Informationen erhalten, wie viel Geld für das nächste Jahr in der Kasse tatsächlich fehlt.

In Dortmund kennt man die Folgen fehlender Haushaltstransparenz: Vor der Kommunalwahl 2009 verschwieg der damalige Oberbürgermeister ein 100-Millionen-Haushaltsloch und verhängte direkt einen Tag nach der Wahl eine Haushaltssperre. Ein riesiger Skandal, die Wahl wurde wiederholt. Wahlbetrug kann man hier in Gelsenkirchen niemandem vorwerfen – schließlich hat Gelsenkirchens Kämmerer extra vor der Wahl auf das Haushaltsloch hingewiesen.

Zur Anmeldung einfach auf das Bild klicken oder hier entlang.

Aber im Moment laufen in Gelsenkirchen Gespräche über ein Bündnis im Rathaus. Es wird besprochen, was bezahlt werden soll, welche Projekte starten und wie die Stadt modernisiert werden soll. Was ist in so einer Situation, wenn sich nach den Koalitionsverhandlungen plötzlich herausstellt: Es gibt noch weniger Geld als vorher gedacht? Wenn alle Projekte gestorben sind? 

Dann wurde viel Zeit für nichts verschwendet, anstatt dass sich die Politiker um echte Lösungen bemühen konnten. 

Warum wir nicht warten können

Bis zum 18. Dezember ist es nicht mehr lang, doch wir wollen nicht warten. 

Um ein wirklich gutes Bündnis für die Zukunft unserer Stadt zu schmieden, ist es entscheidend zu wissen: Wie viel Geld ist in der Kasse?

Es ist eigentlich ganz einfach: Wer vorhat, mehr Tempo bei der Sanierung von Straßen zu machen, muss wissen, ob er mehr Geld als bisher einplanen kann. Wer das Stadtmarketing verbessern will, muss wissen, wie hoch das Budget für Kampagnen und neue Mitarbeiter ist. Wer mit der Stadtbibliothek in das alte Kaufhof-Gebäude ziehen will, muss wissen, ob er sich die Miete leisten kann. 

Beteiligte der Koalitionsverhandlungen bestätigten, dass sie keine genauen Zahlen kennen. Man vereinbare dann eben Dinge entweder nur oberflächlich oder unter Finanzierungsvorbehalt. Man sei auch nicht völlig blind unterwegs, sondern habe auch die mittelfristige Finanzplanung der Stadtverwaltung als Orientierung. Außerdem verhandle man nicht nur Dinge, die mit Geld zu tun haben. 

Das stimmt. Aber alles, was nicht mit einer konkreten Zahl im Haushalt steht, bleibt politisches Geplänkel und bringt Gelsenkirchen nicht voran. Der Haushalt zeigt, was in der Stadt wirklich passiert. Fehlt Geld, müssen Projekte aus dem Koalitionsvertrag eingedampft oder ganz gestrichen werden. 

Wir haben die Stadtverwaltung auch gefragt, wie sie die 164,8 Millionen Euro einsetzen will, die Gelsenkirchen aus dem Infrastruktur-Sondervermögen der Bundesregierung bekommt. Auch auf diese Frage haben wir keine Antwort bekommen, weshalb wir sie jetzt ebenfalls einklagen. 

Transparenz ist entscheidend

Eine Koalitionsvereinbarung unter Finanzierungsvorbehalt ist nur eine Absichtserklärung. Können Dinge doch nicht umgesetzt werden, entstehen Enttäuschung und Misstrauen.

Deshalb wollen wir genauer hinschauen. Dafür brauchen wir die Transparenz, die die Stadtverwaltung verweigert. Vielleicht will sie keine Unruhe in die Koalitionsverhandlungen bringen. Vielleicht steckt mehr dahinter. Wir wissen es nicht. Also ziehen wir vor Gericht.


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Mitreden

Wie finden Sie Spotlight Gelsenkirchen?

Letzte Woche baten wir Sie um Feedback. Einige von Ihnen haben bereits geantwortet: Eine Leserin schlug vor, wir sollten häufiger erscheinen oder längere Ausgaben verschicken. Ein anderer Leser wünscht sich Berichte über erfolgreiche Projekte aus den Quartieren. Einige von Ihnen möchten, dass wir lösungsorientierter berichten und untersuchen, welche Lösungen andere deutsche Städte für ihre Probleme gefunden haben. Insgesamt sind viele von Ihnen mit unserer Themenauswahl aber generell zufrieden und würden uns weiterempfehlen. 

Sehen Sie das anders? Teilen Sie uns Ihre Meinung mit, indem Sie noch bis Sonntag an unserer Umfrage teilnehmen. 

(Falls die Buttons nicht funktionieren, finden Sie die Umfrage auch hier.)

Statt an der Umfrage teilzunehmen, können Sie heute um 18 Uhr ins Spotlight kommen. Dann beginnt unsere offene Redaktionskonferenz, bei der wir ebenfalls Ihr Feedback besprechen.

Schulen am Limit

Wir haben schon mehrfach über das Startchancen-Programm der Bundesregierung berichtet. In Gelsenkirchen nehmen 40 Schulen daran teil, 76 Millionen Euro fließen in den kommenden Jahren in die Schulen. Wir haben nicht nur die Stadtverwaltung und die Schulen selbst befragt, wie das Geld eingesetzt wird, sondern einen Crowdnewsroom mit Lehrkräften und anderen Schulmitarbeitern gestartet.

Nun möchten wir auch direkt mit Ihnen ins Gespräch kommen und laden Sie am 27. November zu unserer Veranstaltung „Bildungssystem am Limit - was brauchen Gelsenkirchens Schulen?" ein. Ich diskutiere dabei unter anderem mit Ralf Niebisch, Schulleiter des Berufskollegs am Goldberg, der aus der Sicht der Schulen berichten wird, die an dem Programm teilnehmen. Außerdem haben wir David Gehne zu Gast. Er ist Politikwissenschaftler und leitet das Zentrum für Interdisziplinäre Regionalforschung an der Bochumer Ruhr-Universät. Dort forscht er zu Kinderarmut und Bildungschancen. Ich werde den Abend nicht selbst moderieren, dafür kommt Verstärkung: Meine CORRECTIV-Kollegin Miriam Lenz recherchiert seit Jahren zum deutschen Bildungssystem, kennt alle Lücken und Tücken des Startchancen-Programms und wird uns sicher durch den Abend navigieren. 

Haben Sie schulpflichtige Kinder? Arbeiten Sie als Lehrkraft oder Schulsozialarbeiter an einer Startchancen-Schule? Oder interessiert Sie das Thema Bildung aus einem anderen Grund? Kommen Sie vorbei - wir freuen uns auf Ihre Perspektive!


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Im Spotlight...

...auf der Bühne

20.11.2025 Offene Redaktionskonferenz - Was ist Ihr Thema?

Jeder Mensch hat eine Geschichte zu erzählen – wir wollen Ihre hören! Am 20. November laden wir Sie herzlich in unser Café ein, um in offener Runde darüber zu sprechen, was die nächsten Geschichten für Spotlight Gelsenkirchen sein sollten. Worüber sollten wir im kommenden Jahr unbedingt berichten? Wie können wir für Sie noch relevanter werden? Außerdem freuen wir uns über ehrliches Feedback zu unserer Arbeit in den vergangenen Monaten.

Sie haben bei uns immer die Möglichkeit, Lokaljournalismus für Gelsenkirchen mitzugestalten. An diesem Abend gilt das noch mal besonders.

Beginn: 18 Uhr
; Ort: Spotlight Gelsenkirchen, Arminstraße 15, 45879 Gelsenkirchen; Eintritt frei

27.11.2025 Bildungssystem am Limit – was brauchen Gelsenkirchens Schulen?

Das Bildungssystem steckt bundesweit in einer Krise, aber in Gelsenkirchen zeigt sich das nochmal besonders deutlich. Hier nehmen insgesamt 40 Schulen am Startchancen-Programm des Bundes teil. Das bedeutet, diese Schulen brauchen dringend Investitionen. In Unterrichtsräume und Schulklassen, in Lehrmaterialien und in Personal.

Am 27. November 2025 sprechen wir darüber, wie es an Gelsenkirchens Schulen aussieht und welche Defizite des deutschen Bildungssystems hier besonders sichtbar werden. Dazu diskutieren wir auf dem Podium mit Expertinnen und Experten auch aus dem Schulalltag und der Spotlight-Redaktion, möchten aber vor allem mit dem Publikum in den Austausch kommen. Moderiert wird der Abend von CORRECTIV-Reporterin Miriam Lenz, die seit Jahren zum deutschen Bildungssystem und insbesondere zum Startchancen-Programm recherchiert.

Beginn: 19 Uhr
; Ort: Spotlight Gelsenkirchen, Arminstraße 15, 45879 Gelsenkirchen; Eintritt frei

29.11.2025 Savin’ Place Konzert im Spotlight

Das Gelsenkirchener Duo „Savin' Place” spielt Folk- und Country-Musik und steht im November bei uns auf der Bühne. Ausnahmsweise nicht an einem Donnerstag, sondern an einem Samstag. Aber da haben ja vielleicht noch mehr Leute Zeit. Wir freuen uns auf Sie!

Beginn: 19 Uhr
; Ort: Spotlight Gelsenkirchen, Arminstraße 15, 45879 Gelsenkirchen; Eintritt frei

04.12.2025 Weihnachtssingen mit MALMØ

Stimmen Sie sich auf die Weihnachtszeit ein! Gemeinsam mit dem Gelsenkirchener Akustik-Duo MALMØ wollen wir bekannte, weihnachtliche Lieder singen. Haben Sie Lust, die Adventszeit musikalisch mit uns zu beginnen? Dann kommen Sie vorbei!

Beginn: 19 Uhr
; Ort: Spotlight Gelsenkirchen, Arminstraße 15, 45879 Gelsenkirchen; Eintritt frei

Alle unsere Veranstaltungen finden Sie unter gelsenkirchen.correctiv.org/veranstaltungen

...auf der Karte

Wir haben eine neue Speisekarte! Also, vor allem das Design ist neu. Aber auch einige neue Gerichte haben wir uns ausgedacht. Werfen Sie gerne mal einen Blick drauf, aber vor allem: Kommen Sie rum.


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Die Woche auf einen Blick

+++ Am frühen Dienstagmorgen gab es ein sehr leichtes Erdbeben in Gelsenkirchen, vor allem spürbar war es in den Stadtteilen Bismarck und Bulmke-Hüllen. erdbebennews.de

+++ Ab dem 31. Dezember schließt Schloss Berge, ab dem  kommenden Jahr soll das Schloss saniert werden, einen neuen Pächter hat die Stadt noch nicht. waz.de 

+++ In Gelsenkirchen steigt die Zahl der Ausbildungsplätze  entgegen des NRW-Trends, denn laut eines Berichts von der Agentur für Arbeit in Gelsenkirchen wurden im vergangenen Jahr 256 Plätze mehr als im Jahr zuvor angeboten. waz.de


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Köpfe im Spotlight

Diese Woche im ausnahmsweise mal nicht so kurzen Interview: Gelsenkirchens neue Oberbürgermeisterin Andrea Henze.

Andrea Henze beim Interview in ihrem Büro.
Sie sagen, Sie wollen ein neues Selbstbild in den Köpfen der Mitarbeiter der Stadtverwaltung verankern. „Bürgerorientierung, rechtssichere Professionalität und verlässliche Leistungsfähigkeit” schreiben Sie in Ihrem Aufstiegsplan. Auf was müssen sich Ihre Mitarbeiter in den kommenden fünf Jahren einstellen?

Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Stadtverwaltung können sich zunächst einmal darauf verlassen, dass ich mit ihnen gemeinsam an einer zeitgemäßen Arbeitswelt arbeiten werde. Dazu gehört natürlich auch ein modernes, gemeinsames Leitbild für die Verwaltung mit ihren 7.200 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Das alles ist aber nicht von oben zu verordnen. Es wird verschiedene Austauschformate geben, in denen ich auch erfahren will, wie wir Prozesse für Bürgerinnen und Bürger verbessern können. Wie möchten wir uns verstehen? Es ist aber auch eine strukturelle Frage, wie wir Schwerpunkte setzen. In der Vergangenheit wurden die vielleicht anders gesetzt und auf Neue müssen wir uns jetzt erst verständigen.

Wir haben in den vergangenen Monaten mit vielen Aktiven gesprochen, die häufiger mit der Stadtverwaltung zu tun haben. Viele empfinden die Verwaltung häufig als blockierend, als zu langsam und zu ineffizient. Wie wollen Sie da konkret ansetzen?

Zunächst einmal ist eine Verwaltung an Recht und Gesetz gebunden. Eine rechtlich fundierte Lösung mit verschiedenen Teilbereichen der Verwaltung zu erarbeiten, kann durchaus etwas Zeit in Anspruch nehmen. Deshalb kann es sein, dass sie für den ein oder anderen, ich sag’s mal so, etwas sperrig oder beharrlich erscheint. Der Prozess liefert aber eine auf Dauer verlässliche Grundlage für jedes weitere Handeln. Man muss aber auch schauen, dass Aufgabenbereiche so besetzt und ausgestattet sind, dass sie ihre Aufgaben gut erfüllen können. Ich frage meine Mitarbeiter immer: Was braucht ihr, um einen guten Job zu machen? Die Antworten sind immer unterschiedlich: Manchmal ist es eine andere IT-Ausstattung, manchmal spezielles Know-How, das fehlt. Oder auch etwas ganz anderes.

In Ihrer Amtszeit werden ja auch alle Dezernentenposten neu gewählt. Wollen Sie die Chance nutzen, um Ihren Verwaltungsvorstand umzubauen?

Der Zuschnitt der Aufgabenbereiche von Dezernenten geschieht im Einvernehmen mit dem Rat der Stadt und der Verwaltung  (dort werden die Dezernenten  jeweils für acht Jahre gewählt, Anm. der Redaktion). Wie die Dezernate in Zukunft zugeschnitten sein werden , wird mit Sicherheit auch in den anstehenden Koalitionsgesprächen Thema sein. 
Unabhängig vom künftigen Zuschnitt der Dezernate stehen in dieser Ratsperiode turnusmäßig Wahlen für alle Dezernenten an, von denen einige altersbedingt nicht erneut kandidieren werden, andere sich gemäß Gemeindeordnung einer Wiederwahl stellen. Mit dem Vorstand, der aktuell da ist, haben wir ein gutes Miteinander. Und wir wollen uns in Zukunft strategischer ausrichten, um diese Stadt zu gestalten, auch dezernatsübergreifend. Nicht erst im Zuge der Wahlen – die teilweise ja erst 2030 anstehen. Und für Posten, die neu besetzt werden müssen, möchte ich die besten Köpfe nach Gelsenkirchen holen.

Neben Personalfragen geht es ja auch darum, wie kommunale Unternehmen neu aufgestellt werden können. Sie haben zum Beispiel angekündigt, die Stadtmarketing-Gesellschaft (SMG) neu aufstellen zu wollen, um am Image Gelsenkirchens arbeiten zu können. Wie wird das aussehen?

Beim Stadtimage ist die SMG eines von vielen Rädchen, die ineinandergreifen müssen. Es gibt noch viele andere Institutionen, Wirtschaftsunternehmen oder Kultureinrichtungen, aber auch 270.000 Botschafter für die Stadt, die da mitarbeiten. Ich sage, dass wir das Stadtimage verändern sollten. Ich möchte aber erst mit den politischen Vertretern darüber sprechen, was eine Stadtmarketinggesellschaft für das Image der Stadt leisten sollte. Wenn wir wissen, was die Aufgaben sind, wissen wir, wie eine neue Struktur aussehen soll. Dann möchte ich einen Markenbildungsprozess anstoßen, mit Bürgerbeteiligung. Denn die Stadt gehört nicht mir und nicht Einzelnen, sie gehört uns allen. Und alle sollen sich in diesem Prozess gehört fühlen. Aber damit werden wir nicht morgen fertig sein.

Lebensqualität ist ein sehr entscheidendes Kriterium dafür, ob sich Menschen in einer Stadt wohlfühlen. Sie fassen darunter auch, wie Menschen von A nach B kommen. Da haben wir schon im Wahlkampf gesehen, dass es dazu politisch sehr unterschiedliche Ansichten gibt. In ihrem Aufstiegsplan klingt es so, als würden sie gerne ein bisschen was von allem machen. Ein bisschen Radverkehr hier, ein bisschen Auto da. Ich habe mich dann gefragt, ob es nicht manchmal besser wäre, lieber eine Sache richtig gut zu machen.

Das ist immer eine Frage der Perspektive. Wir haben in dieser Stadt vierköpfige Familien, die ihren Einkauf nach Hause bringen müssen. Die brauchen das Auto. Wir haben aber auch die Studentin, die mit dem Fahrrad oder der Bahn auf der Bochumer Straße unterwegs ist. Es wird von allem etwas geben müssen. Ich halte den öffentlichen Nahverkehr für sehr sehr wichtig…

…dann wundere ich mich aber, dass in Ihrem Aufstiegsplan zum ÖPNV nur steht, dass „Nutzung und Akzeptanz maßgeblich vom vorhandenen Angebot” abhängt. Das würde ich eher als Binsenweisheit verbuchen. Was wollen Sie denn konkret machen, um den ÖPNV zu verbessern?

Es gibt dafür keine einfachen Lösungen. Das Thema ist komplex und wir müssen auch beim ÖPNV schauen, wie wir uns weiterentwickeln. Dazu greift ein Aufstiegsplan im Kommunalwahlkampf natürlich nicht in letzter Detailschärfe. Da ist auch nicht die Stadt der einzige Akteur, da müssen auch andere mitspielen und das müssen wir intensiv abstimmen. 

Worauf ich mit meiner Ursprungsfrage hinaus wollte: Städte weltweit mit sehr hoher Lebensqualität haben häufig in der Vergangenheit konsequente Entscheidungen getroffen. Zum Beispiel Radverkehr priorisiert oder entschieden, dass man im Hafenbecken wieder schwimmen können soll. So etwas sehe ich bei Ihnen noch nicht so richtig.

Das muss sich auch entwickeln. Man kann ja zu Beginn der fünf Jahre noch nicht die kompletten fünf Jahre durchgeplant haben. Ich muss ausgewogen handeln, vor allem aber auch daran denken, was finanzierbar ist. Bei allem, was in meinem Aufstiegsplan steht weiß ich, dass es auch umsetzbar ist. Wenn ich gesagt hätte: Ich möchte eine autofreie Stadt und ich möchte 20 Radwege bauen, dann wären das Versprechen, die ich vielleicht nicht umsetzen kann. Ich möchte auch ÖPNV, da gibt es ja verschiedene Ansätze in der Stadt. Wie tief und wie ausgeprägt – das wird der politische Diskurs in den kommenden Jahren entwickeln müssen.

Auch eine funktionierende Innenstadt gehört zur Lebensqualität. Sie haben angekündigt, Eigentümer, die Immobilien leer stehen lassen, stärker als bisher in die Pflicht nehmen zu wollen. Wie weit sind Sie bereit, dabei zu gehen?

Als Stadt kennen wir die Möglichkeiten der Gesetze und nutzen sie auch konsequent. Bundesweit sind wir Vorreiter in dieser Frage. Wir haben zum Beispiel an der Emil-Zimmermann-Allee bei einer Immobilie zum ersten Mal deutschlandweit einen Paragrafen im Baugesetzbuch aktiviert, mit dem wir den Rückbau anordnen konnten. Auch wenn es in dem Fall sehr lange gedauert hat und eine Rückbauverpflichtung der letzte Schritt ist, zu dem es im besten Fall gar nicht erst kommt: Die konsequente Anwendung rechtlicher Möglichkeiten möchte ich auch für Immobilien in der Innenstadt. Es kann ja nicht sein, dass die Menschen in einer Stadt leiden, weil ein Immobilienbesitzer einen Leerstand steuerlich besser abschreiben kann. Deswegen ist es für mich wichtig, dass wir solche und andere Paragrafen nutzen, um dagegen vorzugehen. 

Wie könnte das dann aussehen?

Bei der Markthalle in Buer hatten wir uns zum Beispiel irgendwann im ganzen Prozess ein grundbuchliches Vorkaufsrecht eingeräumt, wodurch wir jetzt einen Fuß in der Tür hatten. Ein erster Schritt wird jetzt sein, dass wir uns die Schlüsselimmobilien, die für die Stadtentwicklung wichtig sind, anschauen und dann genau überlegen, was wir alles tun können. Rechtlich ist nicht alles möglich, aber was möglich ist, wollen wir machen.

Die anschließende Frage ist dann, wie solche Leerstände anders genutzt werden können…

Ich möchte unsere Innenstädte nochmal ganz anders lebens- und liebenswert machen. Der WDR ist jetzt gerade da, um das Ladenlokal herum ist immer was los. Wir haben das Wasserstoff-Pop-Up-Büro, auch da ist immer was los. In Dessau, wo ich herkomme und früher tätig war, haben wir mit der Hochschule Seminarräume temporär in die Innenstadt verlegt. Hier in Gelsenkirchen habe ich letztens mit den Gelsenkirchener Werkstätten gesprochen. Die suchen mit der Wirtschaftsförderung nach Räumlichkeiten für eine Nähwerkstatt. Wir müssen die Innenstädte eben anders beleben. 

Nach Gelsenkirchen fließen in den kommenden Jahren Fördermittel aus dem Startchancen-Programm, mit dem besonders herausgeforderte Schulen unterstützt werden, und aus dem Infrastruktur-Sondervermögen der Bundesregierung, aus dem auch ein Teil in Bildung fließen soll. Wie wollen Sie das Geld einsetzen?

Bildung ist für mich entscheidend. Wir brauchen ein Zusammenspiel aus Bildung, Arbeit und Wirtschaft, um unsere Stadt nach vorne zu bringen. Mit Bildung kann ich für die Wirtschaft Fachkräfte entwickeln und die Menschen auch hier behalten, wenn Sie eine Perspektive sehen. Sie wissen, dass wir viel in Sprache investieren müssen. Da hilft uns ein Förderprogramm wie das Startchancen-Programm, weil es bei dem nicht nur ums Bauen geht, sondern auch um Förderung von Inhalten. Beim neuen Bildungscampus, den wir bauen, legen wir zum Beispiel sehr viel Wert darauf, dass sich neue pädagogische Konzepte umsetzen lassen. Zum Beispiel, dass Räume offener und flexibel gestaltet und ausgestattet werden. Auf solche Konzepte legen auch viele unserer Startchancen-Schulen jetzt den Fokus. Gleichzeitig bauen wir in den kommenden Jahren einige neue Schulen.

Neue Schulen sind das eine, aber an vielen alten Schulen gibt es hohen Sanierungsbedarf. Wie sieht es mit denen aus?

Die haben wir auch im Blick, wenn wir über die Fördermittel sprechen. Wir schauen gerade, wo es den dringendsten Bedarf gibt. Wir müssen aber auch schauen, was umsetzbar ist. Ich will nicht die falsche Erwartungshaltung wecken, dass alle Schulen von den Fördergeldern profitieren werden. Ich wurde aber zum Beispiel von vielen Schülern auf die Toilettensituation angesprochen. Die wollen wir verstärkt in Angriff nehmen.

Im Rat könnte es in den kommenden Jahren komplizierter werden. Es gibt mehr Einzelmandatsträger, eine starke AfD und Sie brauchen mindestens eine Dreierkoalition auf Ihrer Seite, um Ihre Ideen umzusetzen. Vielleicht kriegen wir sogar ein Viererbündnis. Sehen Sie da die Gefahr, dass Vorhaben verwässert werden, damit man alle unter einen Hut bekommt?

Was ich im Wahlkampf und auch in den Koalitionsgesprächen bisher mitbekommen habe, ist, dass alle die Stadt im Blick haben und die Stadt nach vorne entwickeln wollen. Das ist eine sehr gute Basis, um zu starten. Es braucht in Zukunft möglicherweise größere Abstimmungsrunden, aber ich denke, dass wir Gelsenkirchen trotzdem nach vorne bringen können, mit all den unterschiedlichen Vorstellungen, die wir haben. Ich erwarte, dass wir gemeinsam an einem Strang ziehen für die Menschen in dieser Stadt.

Auf der anderen Seite des Atlantik beginnt fast zeitgleich mit Ihnen ein anderer Bürgermeister seine Amtszeit: Schauen Sie aktuell ab und zu mal darauf, wie Ihr Kollege Zohran Mamdani in New York in seine neue Rolle startet?

Ich habe Politikwissenschaften studiert, ich schaue in jegliche Richtungen, um zu sehen, wie das eine oder andere funktioniert. Aber jede Region ist unterschiedlich und Gelsenkirchen hat besondere Rahmenbedingungen. Ich gucke in Gänze auf meine Stadt, ich will die Parameter meiner Stadt kennen. Der Kollege in New York hat sicherlich ganz andere Herausforderungen.

Besonders bemerkenswert an Mamdani finden viele ja, wie er kommuniziert. Vor allem auch, wie furchtlos er dem Populisten Trump entgegentritt. Können wir von Ihnen einen ähnlich furchtlosen Umgang mit der AfD erwarten?

Ich muss und werde als Oberbürgermeisterin im Rat als Vorsitzende eine neutrale Rolle gegenüber den Parteien einnehmen. Das erfordert ganz einfach mein Job in diesem Gremium. Sie haben ja sicherlich die aktuelle Diskussion um den Bundespräsidenten und seine Rede am 9. November mitbekommen. Ich werde aber mit aller Macht die Demokratie verteidigen. Sie wissen ja auch, wo ich herkomme. Ich liebe die Freiheit, unsere Demokratie, die Vielfalt unserer Stadt und all das werde ich verteidigen. Und wenn Sie auch sonst Kommunikation meinen: Sie können von mir immer Kommunikation mit einer klaren Haltung erwarten.

Sie haben es jetzt gerade selbst angesprochen: Sie wurden 1975 in eine Diktatur hineingeboren. Sie haben die DDR noch viele Jahre erlebt, waren 14 Jahre alt als die Mauer fiel. Was von diesen Erfahrungen nehmen Sie bis heute mit für Ihre Arbeit?

Nicht leichtfertig zu sein, sondern eine gewisse Ernsthaftigkeit an den Tag zu legen. Für mich war die DDR eine Diktatur, die mit Angst und Bevormundung geherrscht hat. Die vorgeschrieben hat, was man sagen darf und was nicht. Deswegen habe ich gerade auf die Freiheit angespielt. Für mich ist es unglaublich wichtig, dass wir diese Freiheit bewahren. Dass es nie mehr jemanden gibt, der uns sagt, in welche Richtung wir denken dürfen oder nicht denken dürfen. Dass es nie mehr jemanden gibt, der entscheidet, wer dazu gehört und wer nicht dazu gehört. Auch über Bildungschancen eigenständig etwas zu erreichen, war in der DDR nicht möglich, auch da gab es Restriktionen.

Was macht das denn mit Ihnen, wenn sich jetzt Vertreter der AfD immer wieder in eine Opferrolle begeben und behaupten, wir würden in einer Diktatur leben?

Aus meiner Erfahrung in einer Diktatur kann ich sagen: Wir leben definitiv in keiner und ich schätze sehr, dass jeder sagen darf, was er möchte und dass jeder auch sein Leben gestalten darf, wie er das möchte. Wir werden darum kämpfen müssen. Inhaltlich, wenn wir über Themen sprechen, für die es keine einfachen Lösungen gibt, aber auch um die Demokratie an sich.

Man muss immer aufpassen, nicht zu pathetisch zu werden, aber ich glaube, dass die kommenden Jahre sehr entscheidend für unsere Zukunft sein werden.

Ich sehe das auch so. Ich habe die kommenden fünf Jahre von den Wählerinnen und Wählern geschenkt bekommen. Und ich werde beweisen müssen, dass ich das, was ich versprochen habe und das, was die Menschen von mir erwarten, auch umsetzen kann. Das wird nicht einfach werden, aber ich werde alle meine Erfahrungen dafür einsetzen, das Vertrauen der Menschen zurückzubekommen.

Was ist denn Ihre Vision von Gelsenkirchen, hinter der Sie Bürgerinnen und Bürger vereinen wollen?

Wie gesagt, es soll einen breit angelegten Prozess geben, in der meine Vision nur eine von vielen ist. Meine Vision von Gelsenkirchen ist die einer weltoffenen, toleranten Stadt, die sowohl Bildungschancen gewährt, genauso aber auch Arbeitsplätze vorhält und in der wir versöhnt miteinander leben können. 

30 Prozent der Menschen, die zur Wahl gegangen sind, haben einer Partei wie der AfD ihre Stimme gegeben. Wie versöhnt man eine gespaltene Stadtgesellschaft?

Meine Aufgabe wird es sein, mich mit den Wählerinnen und Wählern zu unterhalten und mich mit dem auseinanderzusetzen, was sie stört. Mich um ihre Anliegen zu kümmern. Viele fühlen sich nicht mehr gehört. Einige haben mir im Wahlkampf gesagt: Ich wähle jetzt AfD. Aber ich werde sie beobachten. Wenn sie es schaffen, wähle ich beim nächsten Mal vielleicht anders. An diese Leute will ich ran. Ich möchte, dass sie wieder erleben, dass man sich kümmert.

Ein Weg könnte auch mehr Bürgerbeteiligung sein, über die sie auch immer wieder sprechen. Haben Sie schon konkrete Vorhaben?

Ich habe bereits die Rahmenbedingungen dafür geschaffen, dass die Bezirksforen wieder stattfinden können. Dabei können sich alle einbringen, um ihre Quartiere zu gestalten. Insgesamt gibt es dafür 270.000 Euro, also einen Euro pro Einwohner. Außerdem biete ich bald persönliche Bürgersprechstunden, die erste wahrscheinlich noch vor Weihnachten. Da kann sich jeder anmelden und mit mir sprechen. Außerdem möchten wir auch in Zukunft Bürgerforen veranstalten, bei denen stichprobenartig ausgewählte Gelsenkirchener zu verschiedenen Themen diskutieren und die Politik beraten können.

Die letzte Frage bei „Köpfe im Spotlight” ist immer die gleiche und wir wollen Sie auch Ihnen in leicht abgewandelter Form stellen: Wenn Sie nur eine Sache an Gelsenkirchen verändern könnten – welche wäre das?

Sie meinen, wenn ich einen Zauberstab hätte, mit dem ich eine Sache herzaubern könnte? 


Ja, von mir aus auch mit Zauberstab…

Mein Wunsch ist, dass wir wieder gemeinsam an einem Ziel arbeiten, an einem Strang ziehen und sagen: Wir entwickeln die Stadt für uns weiter. Es gibt hier so viele Menschen, die engagiert sind. Für mich wäre es schön, wenn wir gemeinsam an dieser Stadt bauen.

Andrea Henze (SPD) wurde 1975 in Dessau in Sachsen-Anhalt geboren. Ihre Jugend verbrachte sie in der DDR. Seit 32 Jahren arbeitet sie in unterschiedlichen Verwaltungen: In ihrer Heimatstadt arbeitete sie 20 Jahre lang in der Stadtverwaltung, später leitete sie außerdem eine Wirtschaftsförderung und ein Jobcenter. Zuletzt war sie Gelsenkirchens Sozialdezernentin, bevor sie am 1. November offiziell in ihr Amt als Oberbürgermeisterin startete.


Ich hoffe, Sie fanden das Interview mit unserer neuen Oberbürgermeisterin aufschlussreich. Wir wollten mit ihr über einige Themen sprechen, über die noch nicht so viel gesprochen wurde. Ist uns das gelungen? Was haben Sie vermisst? War es zu lang? Schreiben Sie mir gerne an tobias.hauswurz@correctiv.org.

Vielen Dank und alles Gute!

Tobias Hauswurz

An dieser Ausgabe hat Ronja Rohen mitgearbeitet.


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Schon gewusst?

Auch diese Woche habe ich wieder ein Worträtsel für Sie vorbereitet. Schaffen Sie es diesmal? Viel Spaß!

So funktioniert das Worträtsel:

Erraten Sie das gesuchte Wort in höchstens sechs Versuchen. Es sind nur gültige deutsche Wörter zugelassen.

  • Grün: Buchstabe ist richtig und an der richtigen Stelle.
  • Gelb: Buchstabe ist richtig, aber an der falschen Stelle.
  • Grau: Buchstabe kommt im Wort nicht vor.

CORRECTIV ist spendenfinanziert

CORRECTIV ist das erste spendenfinanzierte Medium in Deutschland. Als vielfach ausgezeichnete Redaktion stehen wir für investigativen Journalismus. Wir lösen öffentliche Debatten aus, arbeiten mit Bürgerinnen und Bürgern an unseren Recherchen und fördern die Gesellschaft mit unseren Bildungsprogrammen.

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